Christian Pfeil

Viele Jahre lang haben wir versucht, mit einem*r Sinti*zze oder Rom*nja-Zeitzeug*in zu sprechen. Über seine Kraft, sich immer wieder zu beweisen, wieder aufzustehen, sich wieder und wieder etwas aufzubauen, sprechen wir, als wir von seiner Wohnung zurück in Richtung Bahnhof gehen. Christian Pfeil hat uns sehr beeindruckt: seine Ernsthaftigkeit ebenso wie seine Leichtigkeit, sein Mut und der Stolz, Sinto zu sein.

Kurzbiografie

Christian Pfeil wurde vermutlich im Januar 1944 in Lublin geboren. Seine Familie wurde bereits 1940 aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Minderheit der Sinti*zze von den Nationalsozialist*innen aus ihrer Heimatstadt Trier deportiert und in das von Deutschland besetzte Polen verschleppt. Nach fünf Jahren Zwangsarbeit in verschiedenen Konzentrationslagern wurde die Familie Pfeil 1945 von der Roten Armee befreit, musste daraufhin jedoch noch sechs Monate in einem Arbeitslager in Odessa verbringen. Zurück in Trier sprach die Familie kaum über das Erlebte. 1951 wurde Christian eingeschult und erfuhr viel Ausgrenzung und Diskriminierung. Die Familie war daher immer der Mittelpunkt seines Lebens. Bereits als Jugendlicher unterstützte er seine schwer traumatisierten und zum Großteil arbeitsunfähigen Eltern und Geschwister.

Nach der Schule machte er eine Ausbildung als Automechaniker und reiste als Wahrsager und Handleser durch Europa. Im Alter von 26 Jahren eröffnete er in Trier eine Kneipe, die schnell erfolgreich wurde und ihn zu einer Lokalberühmtheit machte. Parallel widmete er sich seiner wahren Leidenschaft – dem Singen. In den 1990er Jahren wurde Christian von Rechtsextremen verfolgt und mit dem Tod bedroht. Sein zweites Lokal wurde innerhalb kurzer Zeit zweimal zerstört und u. a. mit Hakenkreuzen beschmiert, nachdem ein von ihm geschriebenes und gesungenes Lied mit antifaschistischem Text im TV ausgestrahlt worden war. Er beendete daraufhin seine öffentliche Gesangskarriere, schloss sein Restaurant und verließ Trier für lange Zeit.

In der Nähe der luxemburgischen Grenze eröffnete er sein drittes erfolgreiches Restaurant. 2015 setzte er sich zur Ruhe. Er kehrte nach Trier zurück und begann, die Geschichte seiner Familie aufzuarbeiten und öffentlich zu teilen. 2022 sprach er erstmals als Zeitzeuge in Auschwitz-Birkenau, danach trat er auch vor dem EU-Parlament und den Vereinten Nationen in New York auf.

»Erzählt der Jugend diese Geschichte und dass ich es sehr wichtig finde, wenn sie sich nicht nur mit meiner Geschichte, sondern auch insgesamt mit der Verfolgung der Sinti und Roma auseinandersetzen.«

Christian Pfeil

Ein Bild zum Weiterleben

Christian Pfeil war das einzige Kind von neun Geschwistern, das zur Schule gehen konnte. Seine älteren Brüder und Schwestern waren nach dem Holocaust zu alt für den Schulbesuch – seine jüngere Schwester musste die Schule verlassen, weil sie wie er hausieren gehen musste, um die Familie zu unterstützen.

Er begleitete seine Eltern zu allen offiziellen Terminen und wurde bald zum Sprachrohr der Familie. Als Christian mit über 50 Jahren zum ersten Mal als Zeitzeuge seine Familiengeschichte erzählte, reagierten seine Angehörigen zurückhaltend: Sie wollten diese Zeit vergessen und konnten nicht darüber reden. 

Das Bild zeigt ein Foto von Christians Familie. Sie war immer sein Rückzugsort, vor allem in einer Kindheit, in der ihm schon früh deutlich gemacht wurde, dass er nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehört. Für diese Familie spricht er heute mit über 80 Jahren – aus Stolz, sodass vor allem junge Menschen von der Verfolgung und Diskriminierung seines Volkes erfahren, und um jungen Sinti*zze ein Vorbild zu sein.

Unsere Begegnung

Sacha, der Neffe von Christian, holt uns beim Hotel ab und wir gehen gemeinsam zu einem kleinen italienischen Restaurant in der Trierer Innenstadt - dort wartet Christian bereits auf uns.

Er begrüßt uns mit einem Händedruck, der fast gleichzeitig zu einer Umarmung wird. Man spürt, dass er gerne in Gesellschaft ist und den Abend in diesem kleinen Restaurant sehr genießt. Er überprüft die Temperatur des Weißweins ganz genau, schließlich war er ja selbst jahrzehntelang erfolgreicher Gastronom. Wir stoßen an, erzählen alle etwas von uns selbst – Geschichten und Bilder werden ausgetauscht: Er musste Udo Lindenberg einmal aus seiner Kneipe schmeißen, erzählt Christian lachend. Und dass er bereits am Broadway gesungen hat – in Restaurants. Wir erfahren, dass Christian Nachfahre einer bekannten Handleserin ist. Auch er hat dieses Talent samt der nötigen Menschenkenntnis. Nach und nach baut sich etwas Vertrautes auf. Am Ende des Abends sind wir voller Vorfreude auf den nächsten Tag und unser Interview.

Christian wird beim Rausgehen von der Hälfte der anwesenden Gäste begrüßt. Draußen fragt er seinen Neffen, wer einer von ihnen nochmal war. Er ist bekannt in Trier und verbindet viele gute Erinnerungen mit dieser Stadt – aber auch Angst, Enttäuschung, Terror und Ausgrenzung. 

Am nächsten Morgen sind wir doch ziemlich aufgeregt. Viele Jahre lang haben wir versucht, mit einem*r Sinti*zze oder Rom*nja-Zeitzeug*in zu sprechen. Dass der Völkermord an der zweitgrößten Verfolgtengruppe des Holocaust erst 1982 von der deutschen Bundesregierung anerkannt wurde und bis heute oft nicht von der breiten Gesellschaft  erinnert wird, ist sicherlich ein Grund, dafür, dass nur wenige der überlebenden Sinti*zze und Rom*nja überhaupt über ihre Geschichte sprachen und sprechen. Christian selbst erzählt uns, dass er schon als kleiner Junge den Ehrgeiz entwickelte, seiner Familie, Trier und der Welt zu zeigen, was ein Sinto schaffen kann. Und dass er schon früh in die Rolle des Sprachrohrs seiner Familie gekommen sei.

Über diese Kraft, sich immer wieder zu beweisen, wieder aufzustehen, sich wieder und wieder etwas aufzubauen, sprechen wir, als wir von seiner Wohnung zurück in Richtung Bahnhof gehen. Christian Pfeil hat uns sehr beeindruckt: seine Ernsthaftigkeit ebenso wie seine Leichtigkeit, sein Mut und der Stolz, Sinto zu sein.

Kennenlernen, Erinnern, Weitergeben

Christian Pfeils ganze Geschichte für Zuhause

Das ganze Interview und alles zum Leben von Christian Pfeil findest Du in seine Interview-Magazin. Wir durften die Zeitzeug*innen in ihrem Zuhause besuchen und zu ihrer persönlichen (Über)Lebensgeschichte befragen. Wir übernehmen damit einen Teil der Verantwortung, die Erlebnisse der Zeitzeug*innen ›Gegen das Vergessen‹ zu bewahren. Das gesamte Interview und alles rund um die Geschichten fassen wir unseren Magazinen zu jeder einzelnen Geschichte und einem Ausstellungskatalog mit zehn Interviews zusammen. 

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