Auf gute Nachbarschaft
Am Ende ihres Lebens stehen sie sich als Menschen gegenüber – neugierig auf den anderen und mit einer Offenheit, die uns beeindruckt hat.
Beiden war es im Zweiten Weltkrieg vorherbestimmt, Todfeinde zu sein. Die Weigerung, sich dieser Tatsache zu beugen, beeinflusste ihr Leben nachhaltig und machte sie schließlich zu Nachbarn. Herr Pluznik ist Jude. Im Nationalsozialismus verfolgt, entschied er sich für den Widerstand. Herr Lietz war deutscher Soldat – eine traumatische Erfahrung ließ ihn desertieren.
Bis zu ihrem Tod lebten die Zwei in der Budge-Stiftung, einem Seniorenheim in Frankfurt, in dem Juden und Christen gemeinsam ihren Lebensabend verbringen. Man kennt sich. Man schätzt sich. Man grüßt sich beim Mittagessen. Die Neugierde führt sie schließlich zusammen: Bei gemeinsamen Treffen philosophieren sie über das Leben und begeben sich auf die Spuren ihrer Vergangenheit. Dabei entdecken sie vor allem eines: Gemeinsamkeiten. So hart die Fronten damals waren, umso tiefer ist das gegenseitige Verständnis und die Freundschaft, die daraus entsteht.
Die intime Begegnung der Zeitzeugen verändert nicht nur deren Beziehung, sondern ermöglicht es auch dem Zuschauer einen authentischen Einblick in gelebte Geschichte zu erhaschen. Dabei beweisen Siegmund Plutznik und Carlo Lietz mit bewundernswerter Offenheit und entwaffnender Menschlichkeit, dass Versöhnung kein theoretisches Konstrukt bleiben muss.
Carlo Lietz
Herr Lietz stellt sich bei uns mit Carlo vor. Er ist im Herzen Italiener und wollte eigentlich nie wieder nach Deutschland zurückkehren. „Ich habe mein Paradies gefunden“ sagt er freudestrahlend. Sein Paradies ist der Garten seiner Villa in einem Dorf in Norditalien. Carlo läuft jeden Tag die gleiche Strecke, um sich fit zu halten. An der Parkbank, am Ende des Weges, kennt man ihn schon. Der Herr, der hier wohnt, kommt Carlo auf seiner Bank gerne besuchen und gemeinsam unterhalten sie die Passanten mit ihren Rezitierkünsten. Der Duft in seiner Küche hält die Erinnerung an sein Paradies am leben. Die Putzfrauen und Krankenschwestern der Budge Stiftung bringen Carlo gerne Knoblauch und Gemüse aus dem eigenen Anbau mit. Carlo im Gegenzug beschenkt jeden, der es zu schätzen weiß, mit gutem Wein aus seinem Keller. An manchen Abenden lädt er die Damen aus der Nachbarschaft zum Weintrinken ein. „Ich darf ja keinen Wein mehr trinken. Ich rieche aber gerne daran.“ Sagt er mit einem Augenzwinkern. Herr Lietz Familie waren begeisterte Nationalsozialisten. Aus kindlicher Begeisterung erwächst jugendliche Rebellion und schließlich ein Hass auf die Unmenschlichkeit des Deutschen Regimes, der ihn auch nach dem Krieg nie loslassen wird.
»Wir, wir sind die Nummer eins. Wir sind das tapferste, wir sind das wichtigste Volk auf der ganzen Welt. Das wurde uns eingebläut. Ihr Jungen, ihr seid die Zukunft, ihr werdet die Herren der Welt sein!«
Siegmund Pluznik
Herr Plutznik ist bei Drehbeginng vor einem halben Jahr in die Budge Stiftung gezogen. Er hat sich schnell eingelebt, man könnte fast meinen, er sei schon immer dort gewesen. Mit seiner beigefarbenen Strickjacke, dem weißen Hemd und der hellen Hose fügt er sich makellos in seine in hellen Farben gestalteten Wohnung ein. Über dem Sofa hängt ein farbenfrohes Bild von den Gärten von Jerusalem. „Das Bild ist von meinem Sohn“ sagt er stolz und zeigt uns ein weiteres Bild, gemalt von einem seiner Enkel. Herr Plutznik ist ein gewissenhafter Mann, dem ab und zu der Schalk im Nacken sitzt. Jeden Morgen, nach dem Aufstehen, hängt er als erstes die Bettwäsche raus. „Meine Nachbarin mag das gar nicht, sie meint es störe ihren Ausblick. Seit sie das gesagt hat, hänge ich meine Wäsche umso pünktlicher raus.“ Herr Plutznik hatte sich als verfolgter Jude im Nationalsozialismus einer Widerstandsbewegung angeschlossen. Nachdem sie von einem Unterhändler verraten wurden, galt ihre oberste Priorität zu überleben. Herr Plutznik gelang mithilfe seiner Freunde die Flucht über Österreich, Ungarn und die Türkei. „Wir haben uns damals geschworen zu überleben, um von unseren Erlebnissen berichten zu können.“ Dieses Versprechen hat er nie mehr vergessen.
Der Film ›Auf gute Nachbarschaft – Eine Begegnung nach dem Krieg‹ ist als ein gemeinsamer Kreativakt vieler engagierter und hilfsbereiter Menschen ohne einen einzigen Cent Budget entstanden. Über 40 Stunden Filmmaterial und 500 Stunden Arbeit sollen nicht umsonst gewesen sein. Uns ist vor allem wichtig, dass so viele Menschen wie möglich Zugang zum Film bekommen können. Und hier kommst du ins Spiel.
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»Es ist wichtig – es ist mir wichtig – dass Sie es wissen. Weil nach Elie Wiesel wird jemand, der den Zeitzeugen zuhört, auch zum Zeitzeugen. Woher sollen Sie die Informationen haben? Außer mir weiß es niemand mehr.«