Interview mit Leon Weintraub
Ich möchte mit meinem Bericht ganz am Anfang beginnen: Im August 2016 lernten Sarah, Matthias und ich Leon zufällig bei unserer Auschwitz-Fahrt kennen. Er war ebenso wie wir im Zentrum für Dialog und Gebet untergebracht und nahm unsere spontane Einladung zum gemeinsamen Abendessen im Speisesaal dankend an. Aus einem Abendessen wurde ein ganzer Abend. Er erzählte uns seine Lebensgeschichte und beeindruckte uns vor allem mit seinem Optimismus, seiner Lebensfreude und seinem feinen Gespür für die deutsche Sprache. Aussagen, die mir bis heute in Erinnerung geblieben sind:
»Mein Bauen auf die menschliche Vernunft ist sehr groß. Ich vertraue in die Menschheit. Ich habe die Hoffnung nicht verloren. Ich habe mich nie als Opfer gesehen. Ich bin Sieger. Ich habe überlebt. Ich bin Verfolgter gewesen, aber ich bin kein Opfer. Das Wort Hass gibt es nicht in meinem Wortschatz. Das zweite ist Rache.«
Bereits an diesem Abend erzählten wir ihm von ZWEITZEUGEN e.V. und tauschten Visitenkarten aus. Zurück in Deutschland dauerte es etwas, bis Matthias und ich den Kontakt zu Leon herstellen konnten. Er war begeistert von der Idee und hatte sich bereits über unseren Verein informiert. Kinder zu Zweitzeug*innen auszubilden, entspricht genau seinen Vorstellungen von Erinnerung. Er hatte ein ähnliches Projekt bereits in Stockholm angeregt, das jedoch nie zustande kam.
Während der Vorbereitung war ich immer wieder ganz schön aufgeregt. Hatte ich mir da nicht zu viel vorgenommen? Ein Interview hauptverantwortlich organisieren, bedeutet eben auch, Fundraising zur Finanzierung des Interviews und dessen Verarbeitung zu betreiben, Ehrenamtliche finden, die mit reisen, Fragen für das Interview vorbereiten und in diesem Falle auch Flüge und Unterkünfte zu buchen. Rückblickend kann ich sagen, ja, es war viel Arbeit, aber eine Arbeit, die sich lohnt. Und man erhält von allen Seiten ganz wunderbare Unterstützung! In diesem Sinne noch einmal DANKE an alle Ehrenamtlichen, die mich dabei unterstützt haben und auch im Nachhinein noch tatkräftig mithelfen!
Nachdem feststand, dass Leon und seine Frau Evamaria uns gerne in Stockholm empfangen würden und dass wir das Interview komplett durch Spenden finanzieren können, wurde schnell ein Termin für einen Besuch vereinbart. Vom 9. bis 11. Juni sollte es also nach Stockholm gehen. Nun benötigten Matthias und ich nur noch Fotograf*innen. Aber auch diese waren schnell gefunden und so stießen Andrea und Janika dazu und komplettierten das Quartett.
Bereits der Emailverkehr mit Leon rief in regelmäßigen Abständen Begeisterungsstürme hervor. Er ist mittlerweile 91 Jahre alt, liest und beantwortet seine Mails aber immer noch sehr regelmäßig, benutzt – wie wir kurz vor Beginn der Reise nach Stockholm feststellten – WhatsApp und lud uns gleich für den Freitagabend zum Abendessen ein, damit wir uns vor dem Interview, das am Samstag stattfinden sollte, etwas kennenlernen konnten. Aufgrund von verschobenen Flügen mussten wir das Abendessen auf Samstag verschieben, aber Leon bestand darauf, dass wir doch wenigstens auf ein Glas Wein vorbeikämen.
Und so stiegen wir am Freitag gegen 21 Uhr aus dem Taxi. Leon stand bereits an der Haustür, um ins in Empfang zu nehmen und zur Wohnung zu geleiten. Dort angekommen, rief er sofort »Evamaria, unsere deutschen Freunde sind da!«, nur um sich umzudrehen und uns zu fragen, ob es in Ordnung wäre, wenn er uns als »Freunde« bezeichnete. Und ob es das war! So verbrachten wir einen wunderschönen gemeinsamen ersten Abend mit Wein, Oliven und Pralinen. Schnell waren wir beim »Du«. Leon und Evamaria erzählten bereits ein bisschen von sich, waren aber vor allem daran interessiert, was wir so machen und wie wir zu ZWEITZEUGEN e.V. gekommen waren. Anschließend fuhr uns Leon (der mit Wasser mit uns angestoßen hatte) noch zu unserem Hostel.
Am nächsten Morgen starteten wir dann direkt mit dem Interview. Leon erzählte uns von seiner Kindheit in Łódź, Polen, seiner Zeit im Ghetto Litzmannstadt (auch bekannt als Ghetto von Łódź) und in den Konzentrationslagern Auschwitz-Birkenau, Groß-Rosen, Flossenbürg und Natzweiler-Struthof, seinem Studium an der Universität Göttingen, seiner Tätigkeit als Gynäkologe in Warschau und Umgebung und letztendlich in Stockholm.
Nach fast vier Stunden hatte uns Leon alles erzählt, was er uns erzählen wollte. Er endete mit der Feststellung, dass wir nun sicherlich hungrig wären (es war mittlerweile Mittag geworden). Er schlug vor, mit uns runter an die Promenade zu gehen, damit wir uns dort einen kleinen Imbiss holen könnten – er selbst wollte nichts – und danach zu seinem Sommerhaus in den Schären direkt außerhalb von Stockholm zu fahren. Wir fragten mehrmals, ob er nicht müde sei und sich etwas ausruhen möchte. Für abends waren wir bereits zum Abendessen bei Leon und Evamaria eingeladen. Doch Leon fühlte sich nicht müde. Im Gegenteil: vor uns hüpfte er die Treppen zur Promenade hinunter, schäkerte mit ein paar Nachbarskindern auf Schwedisch und führte uns schnellen Schrittes zu den Street-Food-Imbissbuden. Diese seien ganz neu, berichtete er. Er müsse unbedingt einmal Evamaria dorthin ausführen.
Nachdem wir uns ein wenig gestärkt hatten, fuhren wir tatsächlich noch zum Sommerhaus, das wirklich traumhaft schön war und in uns allen Astrid-Lindgren-Bücher-Kindheitserinnerungen weckte. Abends saßen wir dann beim wohl leckersten Lachs, den wir jemals gegessen haben (für Janika gab es extra etwas Vegetarisches) und den Evamaria für uns vorbereitet hatte, in der Küche von Leon und Evamaria zusammen und genossen einen weiteren wunderbaren gemeinsamen Abend voller wunderbarer Gespräche. Die beiden ließen es sich auch nicht nehmen, uns am Sonntagmorgen noch die Altstadt Stockholms zu zeigen, so dass es uns sehr schwer fiel gegen Mittag die Rückreise nach Deutschland anzutreten.
Seitdem arbeiten wir nun daran, das Interview aufzuarbeiten und auf unseren diversen Kanälen zu publizieren. Bis die Magazine gedruckt werden können, wird sicherlich noch ein bisschen Zeit ins Land ziehen, da aktuell auch noch andere Interviews, die bereits vorher stattgefunden haben, aufgearbeitet werden müssen. Allerdings konnte ich am 7. Juli Leons Geschichte zum ersten Mal vor einer Schulklasse erzählen, so dass sie bereits jetzt weitergegeben wird und Schüler*innen zu Leons Zweitzeug*innen werden.
Autorin: Ruth Künzel, Zweitzeugin von Leon Weintraub
Kennenlernen, Erinnern, Weitergeben
Über Leon Weintraub
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