
Nachruf: Wir trauern um Margot Friedländer
Kurzbiografie
Margot Friedländer wurde am 5. November 1921 als Margot Bendheim in Berlin-Kreuzberg geboren. Mit ihrem jüngeren Bruder Ralph und ihren Eltern verbrachte sie eine glückliche Kindheit, die jedoch erst durch die schwierige Ehe und spätere Scheidung ihrer Eltern getrübt wurde. Schon vor der Pogromnacht am 9. November 1938 erlebte Margot Diskriminierung als Jüdin. Die Ereignisse dieser Nacht markierten jedoch einen Wendepunkt, nach dem sich ihr Leben dramatisch veränderte – sie musste unter anderem ihre Schneiderlehre abbrechen.
Margots Vater floh alleine nach Shanghai, und Margot und ihrer Mutter wurde bewusst, dass auch sie fliehen mussten. Doch blieben mehrere Emigrationsversuche erfolglos. Am 20. Januar 1943 wurden Margots Mutter Auguste und ihr Bruder Ralph nach Auschwitz deportiert. Auguste entschied sich, ihren Sohn zu begleiten. Sie ließ über eine Nachbarin Abschiedsworte ausrichten: »Versuche, dein Leben zu machen« und übergab ihr eine Handtasche mit einer Bernsteinkette und einem Adressbuch. Diese Habseligkeiten gab die Nachbarin später an Margot weiter, und sie trug beides fortan immer bei sich. Margot blieb allein in Berlin zurück und tauchte unter – sie versteckte sich. Im Juni 1944 wurde sie von sogenannten ›Greifern‹ gefasst und in das Konzentrationslager Theresienstadt gebracht, wo ihr bewusst wurde, dass ihre Familie vermutlich nicht überlebt hatte.

Nach der Befreiung wanderte sie mit ihrem Mann Adolf Friedländer, den sie bereits aus Berlin kannte, in die USA aus. Dort fanden sie schnell Arbeit und eine Wohnung. Erst nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1997 entschloss sich Margot, ihre Vergangenheit mithilfe eines ›Creative Writing‹-Workshops in New York aufzuarbeiten. Dies war den Anfang ihrer Biografie ›Versuche dein Leben zu machen‹ – die letzten Worte, die ihre Mutter der jungen Margot durch eine Nachbarin ausrichten ließ. Im Jahr 2010, im Alter von 88 Jahren, kehrte Margot dauerhaft in ihre Geburtsstadt Berlin zurück. ZWEITZEUGEN traf sie 2019 für ein Interview und war ihr seitdem freundschaftlich verbunden. Margot Friedländer starb am 9. Mai 2025 im Alter von 103 Jahren.
»Ich will ihnen [den Kindern und Jugendlichen] sagen, warum ich [nach Berlin] zurück gekommen bin. Für euch, dass ich mit euch sprechen kann, dass ich euch die Hand reiche, um euch zu warnen. Euch zu sagen, dass es wichtig ist, weil ihr eine Chance habt, die die anderen nicht hatten. Das ist meine Aufgabe.«
Unsere Begegnung: Interview 2019
2019 erzählte uns Margot Friedländer ihre Lebensgeschichte – von den Jugendjahren in Berlin, in denen sie sich bereits für Mode interessierte, und ihr Ausflüge zu Verwandten an den Scharmützelsee große Freude machten, bis hin zur Trennung von ihrer Mutter und ihrem geliebten Bruder Ralph.
Tief bewegt sind wir, als sie uns das Notizbuch ihrer Mutter zeigt, das Einzige, was ihr neben einer Kette und der Handtasche von ihr geblieben ist. Die Kette trägt sie ständig. Wir betrachten gemeinsam Fotoalben und ihre Arbeitshefte aus den USA, wo sie durch Creative Writing-Kurse nach dem Tod ihres Mannes zum Schreiben kam.

Erinnerungen von ihren Zweitzeuginnen
Janika Raisch
Ich habe Margot Friedländer 2018 zum ersten Mal getroffen, als Mitglied der Jungen Jury des Margot-Friedländer-Preises der Schwarzkopf-Stiftung. Ein paar Monate später durfte ich die Preisverleihung moderieren und war gemeinsam mit ihr auf der Bühne, als junge Menschen den Preis entgegennahmen. Ich sprach sie an und fragte sie, ob sie unserem Verein ein Interview geben würde. Sie sagte sofort zu – und wenige Monate später führte ich, gemeinsam mit anderen Zweitzeug*innen, das Interview bei ihr zu Hause. Es war der Beginn einer langen, bedeutenden Verbindung – für mich und den gesamten Verein.
In den Jahren danach sah ich Margot Friedländer immer wieder. Ich besuchte sie zu Hause zum Tee und Gespräch, sah sie bei Veranstaltungen, telefonierte mit ihr oder schrieb ihr E-Mails. Irgendwann konnte sie aufgrund ihrer Schwerhörigkeit nicht mehr telefonieren und auch meine E-Mails könnte sie später nicht mehr beantworten. Dann hielt ich den Kontakt stattdessen über ihren Freund*innen und Wegbegleiter*innen – sie hatten den Auftrag von Margot bekommen, mich anzurufen und beispielsweise Termine mit mir zu vereinbaren. Corona-Pandemie und Margots Krankenhausaufenthalte führten leider dazu, dass wir uns zwischenzeitlich auch mal länger nicht sehen konnten.


Trotzdem blieb der Kontakt bestehen. Margot war unserem Verein sehr zugetan. Sie zeigte großes Interesse an unserer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen – und war wirklich begeistert davon. Besonders zwei Dinge berührten sie: Zum einen unser klarer Bezug zur Gegenwart – also die Frage, was es heute bedeutet, sich zu erinnern und sich mit Antisemitismus und Diskriminierung auseinanderzusetzen. Zum anderen die Briefe, die die Kinder und Jugendlichen am Ende unserer Workshops an die Zeitzeug*innen schreiben.
Nach der Gründung ihrer Stiftung und während der Pandemie lag Margots Fokus vor allem auf Pressearbeit und der Teilnahme an Veranstaltungen. Sie sprach nur noch selten an Schulen und Universitäten und bekam deshalb auch weniger Briefe. Aber durch uns erhielt sie weiterhin Post, ihren jungen Zweitzeug*innen – das bedeutete ihr sehr viel. Und für uns war es eine Ehre, ihr diese Freude bereiten zu dürfen.
Sie war unserem Verein immer sehr wohlwollend gegenüber eingestellt, erwähnte uns regelmäßig in Interviews und unterstützte uns öffentlich. Es kam vor, dass Freund*innen mir schrieben oder anriefen und sagten: »Janika, hast du gesehen, dass Margot euch im Vogue-Interview erwähnt hat? In den Tagesthemen?« Einmal ging sie sogar so weit, sich selbst als Mitgründerin unseres Vereins zu bezeichnen. Das haben wir als große Ehre und mit großer Freude aufgenommen. Dass Margot unser Konzept und unsere Idee so sehr unterstützte, bedeutete mir – und uns allen – unglaublich viel.
Ich habe Margot auch privat als sehr meinungsstark, klar und kritisch denkend erlebt. Sie hatte eine sehr deutliche Haltung zu Gedenk- und Erinnerungsprojekten, die sich nur mit der Vergangenheit befassten und nicht auch über das Heute und den Zustand unserer Gesellschaft sprachen – das überzeugte sie nicht. Sie hatte eine klare Vision und große Pläne für ihre Stiftung. Sie erzählte mir, dass sie ihr gesamtes Privatvermögen eingebracht hatte – und dass sie sehr viel mit der Stiftung vorhatte. Ich hoffe und denke, dass ihre Wünsche von der Stiftung in ihrem Sinne weitergetragen werden. Wir werden unser Bestes geben, ihre Vision auf unsere Weise in unserer Arbeit so fortzuführen – so, wie Margot es sich zu Lebzeiten gewünscht und unterstützt hat.
Im November 2024 sah ich Margot gemeinsam mit anderen Zweitzeug*innen zum letzten Mal. Sie überreichte uns, dem ZWEITZEUGEN e.V., auf der Bühne im Humboldt-Forum den Margot Friedländer Preis, der in diesem Jahr erstmals von ihrer eigenen Stiftung verliehen wurde. Es war ein sehr besonderer Moment. Auf der Bühne konnten wir ihr auch Briefe von Schüler*innen überreichen, die sie so zu schätzen wusste.

Ein paar Monate vor dieser Begegnung hatte ich sie noch einmal zu Hause besucht. Es ging ihr körperlich schon nicht mehr so gut. Aber sie liebte es bis zum Schluss, eigenständig und selbstbestimmt in ihrer Wohnung zu leben – zusammen mit ihrer ebenso eigenwilligen Katze, die gerne auf dem Tisch saß und auch dann nicht runterging, wenn man sie darum bat. Bei diesem Besuch berichtete mir Margot voller Stolz, dass wir gemeinsam den Hermann-Maas-Preis der Evangelischen Kirche gewinnen würden. Dass sie sich so sehr darüber freute, diese Auszeichnung mit uns zu teilen, zeigte mir einmal mehr, was für eine großzügige und herzliche Person sie war. Leider konnte Margot zur Verleihung Ende Oktober 2024 in Heidelberg nicht mehr persönlich erscheinen.


In den letzten Jahren erhielt unser Verein für keine*n andere*n Zeitzeug*in so viele Anfragen wie für Margot – von Menschen, die sie treffen oder ihr etwas überreichen wollten. Dieses große Interesse an ihrer Person war natürlich auch mit hohen Erwartungen und viel Druck verbunden. Wir haben uns oft gefragt, wie sie das alles eigentlich schafft. Ihre Wohnung war voll mit Auszeichnungen, Preisen und Ehrungen – und Fotos mit Politiker*innen und bekannten Persönlichkeiten, auf die sie stolz war. Am stolzesten aber war sie auf die Begegnungen mit Kindern und Jugendlichen – auf ihre Reaktionen auf Margots Geschichte, ihre Erzählungen und ihre selbstgeschriebenen Bücher.
Margot Friedländer war bis zum Schluss in der Öffentlichkeit präsent – und verlangte von sich selbst sehr viel, selbst als es ihr nicht mehr gut ging. Ich wünsche ihr, dass sie nun in Frieden ruhen kann. Möge ihre Seele leicht und ihr Andenken ein Segen sein.
Andrea Schlosser
Wir sind tief betroffen und können es kaum fassen – mit großer Trauer nehmen wir Abschied von unserer Zeitzeugin Margot Friedländer, die am 9. Mai 2025 verstorben ist.
Seit 2010 lebte Margot wider in ihrer Geburtsstadt Berlin, wo sie seit jeher als Zeitzeugin in Schulen, auf Konferenzen, an Universitäten und diversen anderen Veranstaltungen über den Holocaust Aufklärung betrieben hat. Im Jahr 2011 bekam Margot Friedländer für ihre Aufklärungsarbeit das Bundesverdienstkreuz am Bande, 2019 wurde sie mit dem ›Talisman‹ der Deutschlandstiftung Integration von Christian Wulff und Angela Merkel ausgezeichnet. Vor drei Jahren, am 25. Mai 2022, erhielt Margot für ihre Arbeit in der Holocaust-Education die Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin. Ein Jahr später, 2023, wurde Margot mit dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse ausgezeichnet. Noch am 7. Mai 2025 – zwei Tage vor ihrem Tod – sprach sie zum 80. Jahrestag des Kriegsendes im Roten Rathaus in Berlin und mahnte mit ihren Worten: »Seid Menschen!«.


Schon zu Lebzeiten wollte Margot die Lehren, die sie aus ihrem Leben gezogen hat, weiterführen: 2023 gründete sie die Margot Friedländer Stiftung. Bereits seit 2014 wurde der Margot-Friedländer-Preis an Projekte und Menschen vergeben, die sich gegen Antisemitismus und Demokratiefeindlichkeit und für Menschlickkeit und Toleranz einsetzen.
Was uns nach Margots Tod bleibt, ist nicht nur das Vermächtnis ihrer Stiftung, sondern auch unsere gemeinsame Arbeit. Es war uns eine Ehre, dass sie uns ihre Geschichte anvertraute und uns somit in ihr Leben gelassen hat, um ihre Zweitzeug*innen zu werden. Es ist nun an uns, Margots Geschichte zu bewahren und die Maxime »Seid Menschen!« nicht nur zu verinnerlichen, sondern auch unermüdlich weiterzutragen.