Wir trauern um Sister Mary O’Sullivan

Am 21.01.2023 ist die Schwester Mary O’Sullivan im Alter von 75 Jahren in Dublin gestorben. Viele ZWEITZEUGEN-Ehrenamtliche haben sie in Oświęcim, bei Gedenkstättenfahrten nach Auschwitz, kennengelernt. Hier erinnern sich fünf an ihre Begegnungen mit Sister Mary.

Sister Marys Geschichte

Sister Mary O'Sullivan wurde 1947 in England geboren. Ihre Heimat war jedoch Irland, woher ihre Familie stammte und wo sie zusammen mit ihrem jüngeren Bruder aufwuchs. Ihre Eltern arbeiteten beide während des Zweiten Weltkrieges in der englischen Industrie. Sister Mary bezeichnete sie als ihre »ersten Lehrer des Friedens«, durch deren Erinnerungen und Auseinandersetzung mit der Geschichte sie zum ersten Mal mit dem Thema des Krieges in Kontakt kam. Im Alter von 18 Jahren entschloss sie sich, dem Orden der Schwestern der Barmherzigkeit (Sisters of Mercy) beizutreten und sich speziell der Arbeit mit jungen Menschen zu widmen. Nach einjähriger Arbeit in Israel, wo sie erstmals Überlebende der Shoah kennengelernt hatte, folgte die Entscheidung für das »Zentrum für Dialog und Gebet Auschwitz« zu arbeiten. Hier widmete sie sich der Planung, Durchführung und Begleitung von Programmen für Besucher*innen aus aller Welt, deren Begegnung mit dem Ort und mit den Überlebenden.

In ihrer Arbeit schaffte Sister Mary einen Raum der Auseinandersetzung, der Erinnerung, der Begegnung und des Dialogs.

Unsere Erinnerungen an Sister Mary

Sarah

Selten trifft man Menschen, die ganz offensichtlich bei sich selbst angekommen sind. Ich durfte einem Menschen mit einer solchen Ausstrahlung begegnen: Sister Mary war zu diesem Zeitpunkt 70 Jahre alt, hatte graue Haare, braune Augen und einen unglaublich klaren Blick. Ihre weise, in sich ruhende Art hat mich tief berührt. Ganz intuitiv habe ich bei unserem ersten Gespräch verstanden, dass man, erst wenn man ganz bei sich angekommen ist, sich voll und ganz jemand anderem widmen kann, so wie Sister Mary es täglich macht.

Wir haben uns im Zentrum für Dialog und Gebet bei der Gedenkstätte Auschwitz kennengelernt. Dieser Ort war ihr Zuhause und sie lebte dort, um andere Menschen bei der Auseinandersetzung mit sich und dem Ort Auschwitz zu begleiten. Auch uns hat sie an diesem Ort »an die Hand genommen«. Zunächst war es das ungewohnte Gefühl, von jemandem die umfassende Aufmerksamkeit zu bekommen – ohne dass der Blick des Gegenübers zum Handy oder einer anderen Person wandert. Sister Mary lebte im Jetzt, an einem Ort der Vergangenheit. Außerdem gab Sister Mary Antworten, die sich selten auf sie selbst bezogen, sondern immer voller Verständnis für ihr Gegenüber waren. Und sie gab Antworten, die leise, unaufgeregt, aber voller Kraft waren. Bei unserer ersten Begegnung waren wir von ihren klugen und inspirierenden Aussagen so überwältigt, dass wir im sofortigen Bewusstsein, dass Sister Mary eine ganz besondere Frau ist, schnell versuchten auf Notizzetteln Zitate mitzuschreiben und uns gleich danach sicher waren, dass wir noch einmal ausführlicher mit ihr sprechen müssen.

Ein weiteres Beispiel für Sister Marys Art ist unser Wiedersehen nach einem Jahr. Ich hatte mich viel zu lange nicht gemeldet und formulierte mein schlechtes Gewissen, dass ich deswegen mit mir herum schleppte, in einer umständlichen Entschuldigung. Sie schaute mich kurz an und sagte ganz einfach mit einem Lächeln: »Manche Aufgaben brauchen ihre Zeit.« Gleichzeitig sprühte sie an einem Ort des Grauens vor Fröhlichkeit, Lebensfreude und Witz.

Sie brachte Leichtigkeit in jede Begegnung, sodass ich sie einfach fragen musste, wie man an diesem Ort leben kann, ohne dass der Schrecken einen überwältigt. Überraschenderweise antwortete sie darauf, dass sie, sobald dieser Ort sie nicht mehr berühre, sich eine neue Aufgabe suchen würde. Auschwitz sei intensiv, nicht grausam, und es brauche Intensität, um sich entwickeln zu können. Ich hatte diese Gedanken am nächsten Tag mit in das Außenlager Birkenau genommen. Wir hatten Zeit, noch einmal alleine und in Ruhe diesen Ort zu erkunden, ihn wirken zu lassen. Im Gegensatz zu meinem letzten Besuch konnte ich dieses Mal aus dem Ort Kraft und Mut schöpfen. Mir ist durch Sister Marys Aussage bewusst geworden, dass dieser Ort Vergangenheit ist und mir und uns allen eine Chance bietet, zu wachsen. Ich habe an ZWEITZEUGEN und all die tollen Menschen gedacht, die hinter dem Projekt stehen und ich habe dort, in einem Gang zwischen Stacheldrahtzäunen, Mut und Zuversicht gefunden.

Matthias

Dear Sister Mary,

das bleibt mein bescheidener Versuch, Sie mit meinen Englischkenntnissen zu beeindrucken und bei all unseren Begegnungen brach ich dieses heillose Unterfangen nach wenigen Worten ab. Dann schauten wir uns beide immer freundlich, tief in die Augen und mit einem gütigen Lächeln verstanden wir uns von Herz zu Herz. Den Rest klärten wir mit Hilfe der gut Englisch sprechenden Teamerinnen oder Studierenden. Nun schreibe ich also in meiner Muttersprache weiter. Denn nach unserer beider Überzeugung und tiefen Spiritualität in christlicher Tradition hoffen wir, dass uns nun nichts mehr trennt. Keine Sprache, keine Zeit und kein Raum.

Für mich waren Sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort und haben mir geholfen, Auschwitz auszuhalten und begreifen zu wollen. Verstehen, da waren wir uns beide einig, ist an diesem Ort nicht möglich. Für dieses Geschenk unserer Begegnung bin ich Ihnen und unserem Schöpfer oder unserer Schöpferin unendlich dankbar. Sie haben sich in liebevoller, offenherziger und professioneller Weise den Besucherinnen von Auschwitz zugewandt, sofern diese dies mochten. Unaufdringlich und fast unscheinbar konnten Sie durch die Flure und Räume des Hauses gehen. Immer mit Respekt vor dem Anderen und die Zeit gebend, die er oder sie brauchte. Aber wenn gewollt, waren Sie da. Und wir wollten später bei all unseren Fahrten einen Abend mit Ihnen und der Gruppe. Ja, unbedingt!

Ein Gespräch ist so tief und lebendig in meiner Erinnerung geblieben, dass daraus mit Hilfe von Zweitzeugen eine Art »Gedicht«, eine »Legende« entstanden ist , wie am unteren Rand einer Landkarte, die hilft sich dem Ort und Geschehen in Auschwitz zu nähern. Sie gibt Orientierung. Mit diesem Gedicht beginnen wir mit den Teilnehmer*innen jede Auschwitzvorbereitung. Und gleichzeitig führt dieser Text einen unwillkürlich zu einer Antwort. Zur eigenen Antwort auf den Ort Auschwitz und das Erfahrene und Erlebte dort. »Responsibility« heißt es in deiner Sprache, Verantwortung. Und bekommt durch Ihre Art und durch Ihre Erklärung eine so tiefe, wie klare Bedeutung. Keine moralisch aufgeladene, sondern eine vielleicht nicht einfache aber für jede*n auf seine Art mögliche, umsetzbare Antwort, die er auf diesen Ort »Auschwitz« geben kann, wenn er in seinen Alltag und an seinen Lebensort zurückgekehrt ist. Es geht nicht um schuldbeladenes und zauderndes Schweigen, sondern um die klare und sichtbare und hörbare Antwort, die jede und jeder von uns finden und geben kann. Im Anblick und Würdigung der Opfer in Auschwitz, es nicht wieder geschehen zu lassen an den Orten der heutigen Unmenschlichkeit, wie im Mittelmeer, der Ukraine und an so vielen anderen Orten wo Rassismus und Antisemitismus herrscht, statt Menschenrechte und Menschenfreundlichkeit!

Diese Legende ist und bleibt Ihr Vermächtnis an mich, an uns. Sie ist nie zu Ende geschrieben. Sie lebt in uns und mit uns weiter, denn Ihr Wunsch und Ihre Hoffnung an uns war immer, dass wir mit mehr Fragen gehen, als wir gekommen sind. Und Sie haben immer gehofft, dass wir diese Fragen laut stellen, uns selbst diese Fragen stellen und unsere Antwort geben.

Lovely – würden Sie zum Schluss sagen!
In dieser Liebe weiß ich Sie geborgen. In dieser Liebe bleiben wir verbunden!

Janika

Als ich meine erste ZWEITZEUGEN-Visitenkarte erstellt habe, musste ich ein Zitat einer der von uns interviewten Zeitzeug*innen für die Vorderseite auswählen. Ich entschied mich für das einzige Interview, das wir mit einer Person geführt hatten, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren war: Sister Mary.

Wie Sarah schon schrieb, waren wir beide im Sommer 2015 so gefesselt und beeindruckt von Sister Marys weisen Worten, dass wir erst versuchten alles mitzuschreiben und dann sie später baten uns ein spontanes Interview zu geben, damit wir ihre Worte festhalten und weiter verbreiten können. Hier ist einer dieser Notizzettel mit dem Zitat von Sister Mary, das dann später auf meine Visitenkarte gekommen ist:

Als ich 2019 nach Oświęcim zurückkehrte, war meine Freude Sister Mary wieder zu sehen sehr groß. Als wir uns entschuldigten, dass wir ihr Interview noch nicht druckfertig hatten, nahm Sister Mary uns das Versprechen ab, erst alle Interviews mit Überlebenden aufzuarbeiten, bevor wir uns an ihr Interview machen. So selbstlos und immer um Andere bemüht war sie.

Wir hatten regelmäßigen E-Mail-Kontakt mit Sister Mary: Sarah und ich schickten ihr Geburtstagsglückwünsche und Updates von unserem Verein sowie Privatleben. Jedes Mal reagierte Sister Mary mit voller Wärme, Herzlichkeit und voller lobender und bestärkender Worte. Beispielhafte Zitate aus den letzten zwei Mails, die Sarah und ich von Sister Mary erhielten: 

»I continue to remember both of you with affection. Our world more than ever now needs people like you - Peacemakers who gather people together creating a civilisation of love, dignity, and respect for each person. [...] What great people you are! Your mission, commitment, and creative hard work are showing incredible results that are so important for our world today. Please take good care of yourselves as all of this is very demanding. I know you get great energy from it all, including your encounters with witnesses, young people, teachers, and many others. It was a joy to hear from you. [...] Thank you.

Stay safe and well, Mary«

Franzi

Ich bin unglaublich dankbar, dass ich Sister Mary im Rahmen einer Gedenkstättenfahrt 2016 zum ersten Mal kennenlernen durfte.

Im Zentrum für Dialog und Gebet in Oświęcim, wo sie gearbeitet und gelebt hat, war sie nicht mehr wegzudenken. Jedes Jahr kommen wir bei unserer Fahrt dort unter und ich habe mich immer besonders auf ein Wiedersehen mit ihr gefreut. Mit ihrer warmen und fürsorglichen Art hat sie die Gruppen immer wieder aufgefangen und ihnen einen Raum geboten, um frei über ihre Gedanken sprechen zu können. Und auch wenn sie nicht aktiv bei unserer Gruppe dabei saß und man sie nur flüchtig auf der Treppe getroffen hat, hat sie immer gefragt »How are you?« Und das hat sie nicht nur so gefragt, sondern sie war sehr interessiert daran, zu erfahren, wie es uns mit den Erfahrungen und Eindrücken geht, die wir auf dieser Fahrt gemacht haben. Diese aufrichtige und herzliche Art werde ich sehr vermissen.

Sister Mary war ein besonderer Mensch und ich bin dankbar für jede Begegnung, jedes offene Ohr, jeden guten Rat und jedes »How are you?«.

Marina

Ich durfte Sister Mary 2017 im Rahmen der Gedenkstättenfahrt kennenlernen. Sie hat mich schon von unserer ersten Begegnung an tief beeindruckt. Sie gab mir sofort das Gefühl, dass sie mich als Person sieht und wichtig findet. Ich bin ihr am zweiten oder dritten Tag im Treppenhaus begegnet und sie fragte mich, wie es mir geht, ich antwortete »Okay« und sie verstand sofort, dass hinter dem »Okay« mehr steckt. Ich hatte das Gefühl, dass ihr »Wie geht es dir?« keine Floskel ist und auch wenn es nur im Vorbeigehen war, sie sich wirklich dafür interessierte. Sie hat mir in diesem Moment das Gefühl gegeben, dass es für sie jetzt gerade in dem Moment wichtig ist, was ich auf dem Herzen habe und sie sich dafür einfach die Zeit nimmt, obwohl sie wahrscheinlich gerade irgendwas vorgehabt hat. Unser Gespräch endete damit, dass mir Sister Mary ihre Lieblingsorte im Haus zeigte und mir so die Möglichkeit gab Orte für mich zu finden, an denen ich mich zurückziehen konnte. 

Eine dieser Orte war die Bibliothek. Hier konnte man Sister Mary häufig treffen und wenn man rein kam, legte sie sofort ihr Buch aus der Hand und man hatte ihr volle Aufmerksamkeit. 

Ich denke häufig an die Gespräche mit Sister Mary zurück und sie ist ein großes Vorbild für mich, wie ich Menschen begegnen möchte. 

Sie hat für mich so eine innere Ruhe ausgestrahlt und war immer zu 100% mit ihrer Aufmerksamkeit bei ihrem Gegenüber. Sie hat Dinge in mir gesehen, die ich zu dem Zeitpunkt noch nicht so sehen konnte und ich bin ihr dankbar für jedes Gespräch, das wir führen konnten. 

Sie hat diesem Ort eine besondere Ruhe gegeben und hat jedem die Chance gegeben, ihn auf seine eigene Art und Weise wahrzunehmen.