Wir erinnern uns an Frieda Kliger
Frieda wurde am 14.03.1921 in Warschau, Polen, als Tochter einer orthodoxen Familie geboren. Sie hatte einen jüngeren Bruder, der Anfang der 1930er Jahre starb, und zwei ältere Schwestern. Eine Schwester war verheiratet und hatte einen kleinen Sohn (Lutek). Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen lebte sie zunächst mit ihrer Familie im Warschauer Ghetto. Dank ihrer Arbeitserlaubnis durfte sie außerhalb arbeiten, doch als das Ghetto 1943 liquidiert wurde, ging sie ohne nachzudenken über den Todesstreifen, um bei ihrer Familie zu bleiben. Wie durch ein Wunder passierte ihr nichts und auch als ihr Versteck aufflog, sie nach Majdanek deportiert und in den Tod geschickt werden sollte, kam in letzter Sekunde ein Aufseher mit dem Befehl, 1.000 Frauen für Auschwitz zu holen. Ihre Schwester und ihr Neffe wurden jedoch in Majdanek ermordet, ihre andere Schwester wurde mit Frieda zusammen 1943 nach Auschwitz-Birkenau deportiert.
Als Frieda sich dort vor den elektrischen Zaun werfen wollte, brachte sie der Wachmann zum Umkehren. Im Dezember 1944 wurden Frieda und ihre Schwester auf einen sogenannten Todesmarsch nach Ravensbrück geschickt. Friedas eine Geschichte endet in Bergen-Belsen, wo sie mit ihrer Schwester im April 1945 befreit wurde, und dort fängt auch ihre andere an: Als erstes jüdisches Paar nach dem Krieg heiratete sie dort im Dezember 1945 ihren Mann Romek, und zusammen gingen die beiden nach Israel, um ein neues Leben zu beginnen. Frieda antwortete auf die Frage: »Wann hatten Sie das Gefühl, wieder ein Zuhause zu haben? Nach dem Krieg?«, folgendes:
»Es dauerte lange Zeit. Zum Glück gab es Menschen, die mich geliebt haben. Und keiner hatte ein Zuhause. Man musste sich ein eigenes Zuhause kreieren. Als ich nach Palästina kam und wir unsere erste Wohnung bekamen, habe ich alle Wände geküsst. Ich hatte meinen Mann und wir bekamen unser erstes Baby. Da begann ich mich Zuhause zu fühlen.«
Eigentlich wollte Frieda Kliger nie wieder mit einer*m Deutschen reden. Dass die damals 90-jährige doch noch einmal den Mut aufbrachte, eine junge deutsche Frau zu sich nach Hause einzuladen und ihr ihre Geschichte anzuvertrauen, hat beide verändert. Diese Frau war Sarah Hüttenberend.
Hier beschreibt Sarah, wie sie sich an die erste Begegnung mit Frieda erinnert:
Unsere erste kurze Begegnung fand auf einer Theateraufführung statt. Frieda spielte mit anderen Überlebenden und deren Enkeln die Erlebnisse während der Schoah nach. Mit dem Ende der Aufführung war Frieda umringt von Freunden und Verwandten – ein Bild geprägt von Leben, Herzlichkeit und Liebe.
Die nächsten Tage war Frieda von der Thematisierung ihrer Vergangenheit körperlich zu erschöpft für ein weiteres Treffen. Doch dank des guten Zuspruchs ihrer Tochter wuchs Frieda schließlich über sich hinaus und lud mich zu einem Gespräch ein: Erst einmal nur reden. Wir redeten über sechs Stunden. Eigentlich hatte ich eine eher zögerliche, vielleicht skeptische Begegnung erwartet. Tatsächlich wurde ich mit einem Lächeln und einer Umarmung empfangen, beide Seiten etwas unsicher. Als wir uns verabschieden mussten, war noch lange nicht alles erzählt und für Fotos fehlte eigentlich das Licht. Aber darum ging es nicht mehr. Wir verabschiedeten uns als Vertraute und stumm staunte ich, wie viel sich in den Stunden unserer Begegnung verändert hatte. Ob ich zum Purim-Fest nicht ihr Gast sein wolle? Das Purim Fest ist, ähnlich unserem Karneval, ein Freudenfest. Wir redeten und aßen zu lange, so dass wir den großen Umzug verpassten. Aber die Straßen waren noch voll von verkleideten, fröhlichen Menschen. Gerade eben hatten wir über Auschwitz gesprochen und kurz darauf standen wir eingehakt auf der Straße und lachten über einen kleinen Marienkäfer, der glücklich die süße Beute seiner Mutter zeigte.
Frieda Kliger hat Unfassbares erlebt und besaß doch– vielleicht auch zu ihrer eigenen Überraschung – die Stärke, ihr Herz zu öffnen, zu lieben und Freundschaft zu schließen. Der letzte Satz unseres Interviews: »Sarah don't cry, I cried enough for all that.« beschreibt die intensive und emotionale gemeinsame Zeit sehr gut. Zwei Tage lang haben wir geredet, geweint und uns zum Schluss umarmt. So etwas kann man schwer in Worte fassen.
Ich kann nicht sagen, wie dankbar ich dafür bin, dass ich Frieda kennenlernen durfte. Dank ihr ist ZWEITZEUGEN entstanden und ich werde ihre Lebensgeschichte und unsere Verbindung für immer in meinem Herzen haben.
Unsere Bereichsleitung für außerschulische Bildungsarbeit, Christina Tacken, schreibt:
Friedas Geschichte ist eine der ersten Geschichten, die ich über den Verein kennengelernt habe. Sie ist mir direkt ins Mark gegangen. In dem Interview kann man hören, wie sie ihre Kraft zusammen nimmt, um zu erzählen: Direkt, klar, und auch brutal – so, wie sie es erleben musste. Und wenn die Frage allumfassend wird, wie man so etwas Unfassbares überhaupt überleben kann und einen sprachlos lässt, kommt ihre Antwort: »It was meant that I survive«. Und: »Don’t cry. I cried enough for all of that.« Genauso direkt und klar.
Dank Friedas Mut, uns ihre Geschichte zu erzählen, bin ich mit über 600 Jugendlichen ins Gespräch gekommen. Sie sind jedes Mal tief beeindruckt von Frieda. Das Wort, das sie am meisten in den Briefen schreiben, ist: Respekt. Davor, dass sie immer neuen Mut gefunden und sich ein neues Leben aufgebaut hat, macht ihre Geschichte zu einer voller Hoffnung. Einer Hoffnung, die authentisch ist und einem auch in dunklen Momenten Zuversicht gibt. Ohne zu wissen, wie, aber dass es weitergeht.
Ich bin sehr dankbar, Friedas Zweitzeugin sein zu dürfen. Auch wenn ich sie nie persönlich kennengelernt habe, fühle ich mich ihr ganz besonders verbunden und will ihre Geschichte noch vielen Jugendlichen weitererzählen, damit sie nicht in Vergessenheit gerät und uns alle immer wieder daran erinnert, dass es weiter geht.