Nachruf Chanoch Mandelbaum

Wir trauern um Chanoch Mandelbaum. Der Zeitzeuge, den wir erstmals im Jahr 2011 trafen und interviewen durften, ist im hohen Alter in Israel verstorben. Wir sind dankbar für die Begegnungen mit ihm.

Kurzbiografie   

Chanoch Mandelbaum wurde 1923 in Kleve (Deutschland) geboren und verbrachte dort seine Kindheit. Circa 1935 begann er dort auch eine Ausbildung zum Gerber. Nach dem Novemberpogrom 1938 wurde er als eines von vielen Kindern aus Deutschland nach Holland geschickt. Chanoch lebte dort in Kinderheimen und machte die Ausbildung zum Tischler. Im Mai 1940 marschierte die Wehrmacht in die Niederlande ein und 1942 wurde Chanoch in ein Durchgangslager des Konzentrationslagers Westerbork deportiert und dort inhaftiert bis 1943. Unter dem Vorwand, nach Palästina ausgetauscht zu werden, kam er dann in das Konzentrationslager Bergen-Belsen und überlebte als einer von wenigen die letzte Fahrt eines Judentransports 1945 - den sogenannten Verlorenen Zug. Er wurde in Tröbitz (Deutschland) 1945 von der sowjetischen Armee befreit, kehrte in die Niederlande zurück und bereitete sich dort und in Frankreich auf seine Ausreise nach Israel vor. In dieser Zeit lernte er auch seine Frau Rahel kennen. 1946 kam er nach Palästina, das heutige Israel, und baute sich ein neues Leben auf. Er verstarb 2023 in einem Altersheim in Jerusalem.

»Man kann nicht vergessen. Ich denke noch oft an die Vergangenheit. […] Manchmal zittere ich und fang an zu weinen, innerlich zu weinen. […] Aber allgemein glaube ich, dass ich das doch gut überstanden habe und irgendwie doch gut das Leben wieder von vorne angefangen habe.«

Unser Interview mit Chanoch - von Sarah Hüttenberend

Chanoch Mandelbaum geht es körperlich sehr schlecht. Trotzdem hat er die große Anstrengung auf sich genommen, mit uns zu reden und sich für die Fotos umzusetzen. Obwohl es ihm große Schmerzen bereitet. Er kämpft noch immer. Darum, dass man ihm und den anderen Überlebenden Gehör schenkt, sich ihre Geschichten einprägt und sie nicht in Vergessenheit geraten lässt.
Als junger Mann ist Chanoch damals mit der Liebe seines Lebens und großen Hoffnungen in das gelobte Land gekommen. Stolz schwingt in seiner Stimme mit, als er erzählt, wie er als Schreiner den ersten Nagel in seinen Staat Israel schlug. Der Tisch, den er damals für die Verkündung von Israels Unabhängigkeit schreinerte, kann noch heute besichtigt werden. Die Visionen von damals jedoch scheinen mit Chanoch Generation zu verschwinden. Das macht ihn traurig und wütend. Doch es gibt auch Schönes. Das Mädchen, das er nach dem Krieg in Paris ansprach, ist seit über 65 Jahren mit ihm verheiratet. Sie sitzt während unseres Gesprächs an seinem Bett und achtet darauf, dass er sich nicht zu sehr anstrengt. An der Wand hängt eine Collage mit dem Stammbaum der beiden. Es sind seine vielen Kinder, Enkel und Urenkel, die Chanoch bei jeder Erwähnung lächeln lassen. Zur Mittagszeit verabschieden wir uns. Chanoch ist erschöpft. Dennoch betont er, wie wichtig es ihm ist, dass wir seine Geschichte weitergeben. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, zu sprechen, solange er noch kann. Während wir durch den Hausflur laufen, geht uns ein Gedanke durch den Kopf: Überlebende, die wegen einer Gesellschaft, für die es einfacher ist, zu verdrängen, nicht loslassen können.

 

ERINNERUNGEN VON SEINEN ZWEITZEUGINNEN

Sarah Hüttenberend:

Vieles von der ersten Begegnung mit Chanoch vor gut dreizehn Jahren ist mir bis heute noch in einzelnen Bildern in Erinnerung geblieben. Zum Beispiel, wie er mit seiner Frau in der Küche an einem kleinen Esstisch saß und beide so unglaublich wertschätzend miteinander umgegangen sind. Ich habe aus dem Wohnzimmer aus zugeschaut und die Wärme der beiden gespürt. 

Während des Interviews hat Chanochs Frau aufmerksam zugehört, größtenteils still. Als es dann aber um den Heiratsantrag ging, hat sie sich doch eingemischt und Chanoch gefragt, ob er denn noch wüsste, wann dies gewesen sei. Sie hat ihn lachend damit aufgezogen, dass er den Tag nicht wusste: »Aber du warst dabei. In zwei Wochen ist es 65 Jahre.« und ich hatte den Gedanken, wie normal und gleichzeitig besonders diese Szene war. 

Jahre später habe ich noch genau von diesem Moment in Schulklassen und Workshops erzählt. 

Das Bild ist aus dem Independence Hall Museum in Tel Aviv. An dem Tisch unter dem Bild von Theodor Herzl rief 1948 Ben Gurion den Staat Israel aus. Chanoch hatte als Arbeiter in einer Tischlerei an der Herstellung dieses Tisches mitgearbeitet. Er sagte uns: »Ich habe den ersten Nageln in den Staat Israel geschlagen.«

Lea Schlich:

Ich durfte Chanoch Mandelbaum 2017 persönlich kennenlernen, als wir ihn in Jerusalem besuchten. Zwar merkte man ihm zu diesem Zeitpunkt das fortgeschrittene Alter bereits an, jedoch wurde er nicht müde, eines immer zu wiederholen: Liebe und Frieden seien ein und dasselbe. Die Liebe, das seien nicht nur Mann und Frau, die sich liebhaben. Der Mann und die Frau mit all ihren Nachbarn müssten sich liebhaben, damit die Welt in Frieden leben könne. Liebe und Frieden seien das, was der Mensch brauche. Der Zweck des Lebens sei, so zu leben, dass es sowohl gut für einen selbst als auch für die Mitmenschen sei.

Trotz dem, was ihm in der Vergangenheit angetan worden war, was er erlitten hatte, sprach aus seinen Worten nicht das kleinste bisschen Verbitterung oder Hass. Vielmehr betonte er auch seine große Dankbarkeit für die Beziehung zu seiner Frau sowie für seine Kinder und Enkelkinder. Diese gäben ihm die Kraft, weiterzumachen, da er sich für sie ein glückliches und friedliches Leben ohne Krieg wünschte.

Aus dieser Begegnung bleibt mir die beeindruckende unerschütterliche Versöhnlichkeit und Güte in Erinnerung, die ich wahrnahm. Chanoch Mandelbaum war es immer wichtig, seine Geschichte weiterzugeben und zu sprechen, solange er noch kann. Das hat er wirklich getan.